Welt ohne Gott?Rezension: Welt ohne Gott?

Rezension des Buches „Welt ohne Gott?: Eine kritische Analyse des Naturalismus“ von Markus Widenmeyer.

Um es vorweg zu nehmen: Wer hier eine kluge Auseinandersetzung mit dem Naturalismus erwartet wird in diesem Buch nicht fündig werden. Markus Widenmeyer, der dem Junge-Erde-Kreationismus zumindest nahe steht, enttäuscht mit konfuser Logik und falschen Schlussfolgerungen und bedient hier nur seine eigene, schon überzeugte Klientel.

Einen Eindruck von dem was einem in diesem Buch erwartet kann man sich anhand seines frei verfügbaren Artikels „Prinzipielle Grenzen der Naturwissenschaft“ (auf den „Wort und Wissen“ Webseiten veröffentlicht) verschaffen. Der Inhalt findet sich fast 1:1 auch als Kapitel 5.1 in dem Buch wieder. Eine Replik von Volker Dittmar zu diesem Artikel findet man auf den Webseiten der AG-Evolutionsbiologie.

Beim Durchlesen des Kapitels 5.1 ist mir aufgefallen, dass das Fazit des Artikels etwas anders gehalten ist; interessanterweise fehlt in dem Buch folgende Passage: „Die zweite Begrenzung ist, dass die Naturwissenschaft über die tatsächlich gemachten Beobachtungen hinaus nichts dazu sagen kann, ob diese Regelmäßigkeiten immer vorhanden sind oder mit Notwendigkeit gelten, weil sie den realen, metaphysischen Grund der Naturerscheinungen und ihrer Ordnung nicht kennt. Ob zum Beispiel im Rahmen einer biblisch fundierten Schöpfungsauffassung Gott die Welt mit einem bestimmten (scheinbaren) Alter oder gar mit inkohärenten Altersstrukturen schuf oder zwischendurch (zum Beispiel im Rahmen der Sintflut) diese modifizierte, ist eine Frage der Metaphysik einschließlich der Theologie. Erst dann, wenn die metaphysischen Szenarien hinreichend klar formuliert sind, können sinnvoll Fragen bezüglich einer weit entfernten realen Vergangenheit oder Zukunft qualifiziert naturwissenschaftlich bearbeitet werden.

Widenmeyer schreibt hier doch tatsächlich, dass die Naturwissenschaften als Erstinstanz überhaupt nicht befähigt sind eine Aussage über das Alter der Erde und deren Altersstrukturen zu machen! Also weder die Physik, Biologie, Astronomie, Paläontologie, Geologie, keiner. Solch eine Frage kann NUR der Metaphysik und Theologie gestellt, ergo auch grundsätzlich erst einmal nur von diesen beantwortet werden. Wie die Widenmeyersche Metaphysik und Theologie diese Fragen angehen will ist dabei klar, sie schauen in die Bibel und rechnen wie James Ussher zurück. Eine andere Grundlage bietet sich ihnen hier auch gar nicht, denn sonst wäre es mir vollkommen schleierhaft wie man ohne etwas über die physische Beschaffenheit der Dinge zu wissen, nur mittels metaphysischen und theologischen Nachdenkens deren Alter ergründen will. Die Naturwissenschaften sind dann aus seiner Sicht nur noch dazu da das gefundene Ergebnis abzunicken. Der obige, im Buch fehlende Passus, gibt schon einmal einen recht guten Einblick in das Widenmeyersche Weltbild.

Das sollte man sich auch vor Augen halten wenn man die 5 Sterne Amazon Besprechung von R. Nolte liest. In dieser lobt er Widenmeyers „naturwissenschaftlicher Fachkenntnis und die Kombination von souveräne Kenntnis der Inhalte und Funktionsweise der Naturwissenschaften mit einer philosophisch-begrifflichen Schärfe.“ Insbesondere was die Naturwissenschaften betrifft, geht W. diese begriffliche Schärfe und Kenntnis aber genau ab, zumindest zeigt er diese in dem Buch nicht. Besonders auffällig ist das bei dem Umgang mit den Begriffen „Ordnung“ und „Unordnung“ worauf ich später noch eingehen werde.

W. geht es in seinem Buch weniger um eine kritische Analyse wie der Titel suggerieren will, sondern er versucht sich nur daran den Naturalismus und die Naturwissenschaften zu widerlegen und seine kreationistische Weltsicht als die einzig Wahre zu verkaufen.

Wie W. hierbei streckenweise vorgeht erfährt man gleich im ersten Absatz („Modernes Denken“), den man auch in der Besprechung von R. Nolte nachlesen kann. Der üblichen Bedeutung von „modern“, was viele auch mit Begriffen wie „offen“, „neuen Dingen gegenüber aufgeschlossen“ verbinden, setzt W. hier eine andere Lesart entgegen: „der herrschenden Denk- und Lebensweise entsprechend“. Damit wird aus „modern“ (insbesondere wenn man weiterliest) auf einmal so etwas wie dessen Gegenteil, nämlich etwas Beharrendes und Rechthaberisches. Dem setzt er dann sogar noch eins drauf und listet auf was vermeintlich typisch für moderne Menschen ist: Sie übernehmen unbeirrbar ungeprüft vorherrschenden Sichtweisen, sind empört, diffamieren, unterdrücken und töten Andersdenkende. Warum das nun gerade und vor allem auf modern eingestellte Menschen zutreffen soll erläutert er nicht weiter.

Der Grund für diesen semantischen Kniff mit dem Begriff „modern“ ist offensichtlich, sein kreationistisches Weltbild ist mit gut 3500 Jahre sowohl vom Alter als auch inhaltlich definitiv das Gegenteil von modern. Indem er nun der aktuelle Sichtweise und damit implizit der aktuellen naturwissenschaftlichen Vorgehensweise den von ihm zuvor diskreditierten Begriff „modern“ verpasst, erscheint seine Weltanschauung nun gar nicht mehr als veraltet und rückständig, sondern als mutiges Aufbegehren welches die derzeitige wissenschaftliche Methodik in Frage stellt, die gegenwärtig nach seinem Verständnis nur einer Modeerscheinung folgt, nämlich dem Naturalismus. Kreationismus also als Fels in der Zeitgeistbrandung.

Dabei unterschlägt er geflissentlich, dass es Zeiten gab als z.B. das Christentum durchaus auch mal neu und „modern“ war und dass in komplett von der kreationistischen Weltanschauung durchdrungenen und überzeugten Gesellschaften es mindestens genauso oft vorkam „dass diejenigen, die die herrschenden Ansichten in Frage stellen, von ihren Zeitgenossen diffamiert, unterdrückt oder gar getötet wurden“. So ein Verhalten ist also nicht an eine Weltanschauung oder gar Modernität gebunden, sondern leider einem zutiefst menschlichem Sozialverhalten geschuldet. Dass er in diesem Zusammenhang dann auch noch die Verurteilung des Sokrates zum Tode als Beispiel aufführt, ist schon ziemlich kess, war doch Sokrates, bezogen (nicht nur) auf seine Zeit, sicherlich ein höchst modern denkender Mensch.

Interessieren würde mich warum W. hier auch explizit erwähnt, dass es sich bei Athen damals schon um einen _demokratischen_ Staat handelte. Sieht er die Demokratie als Zeichen eines (für ihn falschen) Modernismus oder denkt er dass die Verurteilung von Sokrates ein typisches Ergebnis demokratischer Meinungsbildung ist?

ORDNUNG
Während des Lesens trieb mich W. durch seinen inflationären und willkürlichen Gebrauch des Wortes Ordnung schier in den Wahnsinn. Nach W. ist ALLES und JEDES irgendwie Ordnung. Dass er den Begriff mit zum Teil unsinnigen Unterscheidungen wie natürliche Ordnung, biologische Ordnung, innere Ordnung (was es so wie er es beschreibt physikalisch gar nicht gibt) doch irgendwie zu spezifizieren versucht rettet da auch nichts mehr, sondern macht es tatsächlich nur noch verwirrender. Zudem operiert er auch noch mit dem wenig bis gar nicht mehr verwendeten Begriff „Negentropie“. Prof. Dr. Friedrich Herrmann führt in seinem Beitrag „Altlasten der Physik (76): Negative Entropie und Negentropie“ detailliert aus warum dieser Begriff entsorgt gehört und schreibt in seinem Fazit: „Man braucht keine negative Entropie. Alles ist klarer, wenn man sich mit der positiven bescheidet.“. Klarheit war aber hier wohl nicht das Ziel von W.. Für die Negentropie findet sich in der Natur auch keine physikalische Entsprechung, das ist so als wenn man von negativer Masse oder negativen Volumen redet.

Viele Sachverhalte die W. mit Ordnung zu erklären versucht, wären inhaltlich mit dem Begriff Entropie richtiger beschrieben. Die Entropie wird zwar bei W. erwähnt, aber bei der Gelegenheit eben aber auch falsch über seinen Begriff von Ordnung definiert: „Entropie ist dabei als das negative Maß von Ordnung also Unordnung definiert. Das positive Maß an Ordnung nennen wir 'Negentropie'“.

Entropie hat aber nicht wirklich etwas mit Unordnung zu tun. Ordnung und Unordnung sind zudem rein qualitative und extrem subjektive Begriffe. Wie sagte mein Professor sinngemäß gleich in der ersten Stunde zur Entropie so schön: „Unordnung liegt im Auge des Betrachters, vergessen sie daher besser im Zusammenhang mit den Naturwissenschaften dieses Wort wenn ihr Ziel ist Natur und Physik verstehen zu wollen“. Entropie ist ein Maß für die Anzahl der mikroskopisch erreichbaren Zustände (ob nun ordentlich oder unordentlich).

Dieses (absichtliche?) verwirrende Vermischen und Vermengung der Begrifflichkeiten ist womöglich auch eines der Gründe dass W. überall grundsätzliche „radikal unlösbare Probleme“ des Naturalismus und der Naturwissenschaften sieht und falsche Schlussfolgerungen zieht.

Ein Beispiel, im Kapitel 6 Seite 136 führt er aus, dass „Ordnung“ im Ganzen immer nur abnimmt. Die eigentlich korrekte naturwissenschaftliche Entsprechung dazu ist der 2. Hauptsatz der Thermodynamik der besagt, dass die Entropie in geschlossenen Systemen nur zunehmen (bestenfalls gleichbleiben) kann. Somit „wäre Ordnung schon immer vorhanden gewesen, dann müsste man immer größere Ordnung annehmen je weiter man in der Zeit zurückgeht und schließlich eine unendliche Ordnung. Dadurch wird das Erklärungsproblem noch gewaltiger…

Sein Schluss hier ist aber falsch; physikalisch sowieso und sogar auch dann wenn man sich auf die Widenmeyersche Argumentation und seinem Ordnungsbegriff einlässt. Da man von einem endlichen Alter des Universums ausgeht, muss die Ordnung am Anfang nicht unendlich groß gewesen sein, sondern einfach nur größer als sie jetzt ist.
Und der tatsächlich physikalische Sachverhalt: wenn alles mit rechten und natürlichen Dingen zugeht, also der 2. Hauptsatz sein Gültigkeit haben soll, dann muss die Entropie im Ganzen zur Zeit der Entstehung unseres Universums geringer gewesen sein als heute. Und in der Tat deckt sich das wunderbar mit den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Beobachtungen. Wo hier das „gewaltige Erklärungsproblem“ liegt von dem W. redet bleibt wie so oft in dem Buch „radikal ungeklärt“.

R. Nolte listet in seiner Besprechung auch die acht Zuschreibungen auf die W. dem Naturalismus gibt. Er bezeichnet sie als „Definitionen“ bzw. „Paradigmen“, was sie aber nicht sind. W. nennt sie „Wirklichkeitsauffassung des Naturalismus“, genauer müsste man aber sagen es sind Wirklichkeitsauffassungen wie W. sie im Naturalismus zu sehen glaubt, also eher so etwas wie Thesen die er zum Naturalismus aufstellt.

Zu diesen 8 „Wirklichkeitsauffassung“ folgende Anmerkungen:

  1. Der Ursprung der Welt ist nichtgeistig, materiell und nicht oder wenig geordnet.
    Was er unter dem „wenig geordneten“ oder „nicht geordneten“ Ursprung versteht erklärt er ja nicht wirklich, aber wie schon vorher ausführt, bezogen auf die Entropie (was W. fälschlich konsequent mit „Unordnung“ und „wenig geordnet“ gleichsetzt) war diese am Anfang niedriger als sie jetzt ist. Somit ist der letzte Teil der Zuschreibung wenn man der Wiedenmeyerschen Definition von Entropie (= Maß für die Unordnung) folgt schlichtweg falsch.
  2. Das Höhere und Komplexere stammt vom Niederen und Einfachen ab.
    Ich habe meine alte Anmerkung an dieser Stelle, die zum Teil im Kommentar von G., Peter noch nachzulesen ist, komplett gestrichen. Zu Recht wurde im Kommentar darauf hingewiesen, dass in der Biologie höher und niedriger durchweg als Klassifizierungsmerkmal Verwendung findet. Zudem ist klar was gemeint ist, da die Dinge gemäß den Erkenntnissen der Naturwissenschaften am Anfang „elementar“ (einfach) waren, müssen sich heutige Strukturen und Komplexes daraus entwickelt haben, auch wenn das "stammt ab" für Dinge außerhalb der Biologie keine sehr glückliche Wortwahl ist. Der Inhalt der Aussage von Widenmeyer aber trifft hier als Zuschreibung für das naturalistisches Weltbild sicher zu.
  3. Die Welt und alle ihre Ausstattungsmerkmale entwickelten sich auf Grundlage blinder Naturvorgänge mit einem praktisch unbegrenzten schöpferischen Potential.
    Mit dem Begriff „schöpferisches Potential“ drückt er dem Naturalismus mal wieder ein Attribut auf, das dort gar keine Verwendung findet. Auch hier zeigt sich wiederholt Widenmeyers im Kreationismus verhaftete Weltsicht, in der das Entstehen von Dingen immer als Schöpfungsakt gesehen wird. Gemäß den Naturwissenschaften werden keine Galaxien, Planeten, Berge, Ozeane, Leben „erschaffen“ sondern es gibt natürliche Ursachen und Prozesse ihres Entstehens. Das immer wieder unterstellte „praktisch unbegrenzte“ Potential ist ebenso Unfug. Die Grenzen sind überall gut zu erkennen, alles unterliegt den physikalischen Gesetzten.
  4. Die hochgradige Ordnung der Welt ist eine Variante der Unordnung. Sie ist letztlich eine radikal unerklärbare Tatsache.
    Dass es Strukturen, also so etwas wie im Widenmeyerschen Sinne Ordnung gibt, das ist überhaupt nicht radikal ungeklärt. Mechanismen die aus einer verteilten (Ur-)Materie definierte Dinge und Strukturen („Ordnung“) wie Elementarteilchen, Atome, Moleküle, Staub, Planeten, Sonnen, Galaxien entstehen lassen sind durchaus bekannt. Sie nennen sich Gravitation, starke und schwache Wechselwirkung, elektromagnetische Kraft, also die Grundkräfte der Natur. Die Behauptung von W. dass diese Kräfte tatsächlich gar keine „Ordnung“ bewirken, weil die Dinge die diese Kräfte zusammenführen und zu Strukturen ausbilden, zuvor schon eine „innere Ordnung“ (?) mitbringen und es damit zu keiner Erhöhung von Ordnung kommt (S.134), mag in seiner Metaphysik-Welt gelten, in der realen Welt ist das anders. Dort sinkt z.B. über die Zusammenballung von freier Materie durch Gravitation deren Entropie. Und wenn er sich seine eigenen Ausführungen auf den Seiten davor noch einmal genauer ansehen würde, dann würde ihm das auch unmittelbar einleuchten.
  5. Geist ist eine Variante des Nichtgeistigen und ebenfalls eine radikal unerklärbare Tatsache, die „einfach so“ zustande gekommen ist.
    Geist als eine „Variante“ des Nichtgeistigen zu beschreiben ist schon eine recht schräge Zuschreibung. Ist Musik eine Variante von Musikinstrumenten? Ob Geist naturalistisch unerklärbar ist muss sich noch zeigen, es gibt dazu durchaus einige Überlegungen. Ein Problem ist ja schon, dass es nicht einmal eine saubere unumstrittene Definition von dem gibt was er als Geist bezeichnet. Was man aber weiß, dass es z.B. in der Tierwelt durchaus auch so etwas wie Geist und Bewusstsein gibt. Diese sind dort in der Regel in dem Maße ausgeprägt, wie das Gehirn des jeweiligen Lebewesens entwickelt ist. Damit ist es ziemlich naheliegend dass sich Geist mit den Möglichkeiten und Kapazitäten des Gehirns mitentwickelt (hat). Wenn dem tatsächlich so ist, wäre Geist dann eben nicht „einfach so“ zustande gekommen. Wie stark der Geist von der Funktion des Gehirns (= Nichtgeistiges) abhängt sieht man immer dann leidvoll bei Gehirnschäden z.B. durch Unfälle oder genetischen Defekten. Wie und wann Geist entsteht scheint mir außerdem eher in der Metaphysik „radikal ungeklärt“. Der kommt da ja offensichtlich bei der Zeugung oder Geburt oder sonstiger Gelegenheit auch irgendwie „einfach so“ zustande, oder gibt es hierzu eine schlüssige und einheitliche These?
  6. Der Mensch ist nichts als Materie. Er ist letztlich vollständig durch blinde, nichtgeistige Faktoren festgelegt und hat keinen freien Willen.
    Wie schon im Punkt darüber ausgeführt, ist es gar nicht ausgemacht ob Materie nicht auch so etwas wie Geist hervorbringen kann (zumindest konnte noch niemand nachweisen dass es Geist ohne Materie gibt). Dass uns dieser Geist dann zu einem freien Willen befähigt, warum nicht? Der freie Wille ist nicht unbedingt ein Argument gegen den Naturalismus. Die naturalistische Weltanschauung impliziert erst einmal nicht dass es so etwas wie den freien Willen nicht geben kann, wie z.B. Daniel C. Dennett ausführt, auch wenn zugegeben einige Anhänger des Naturalismus zu anderen Schlüssen kommen.
    Tatsächlich macht gerade der spezielle Determinismus den ein allwissender Gott impliziert, eigentlich einen freien Willen schwierig denkbar. Wenn Gott die Zukunft kennt, ist diese auch festgelegt, also sind sogar schon vor seiner Zeugung das Schicksal des Menschen und seine Taten ausgemacht. Wie geht das mit einem freien Willen zusammen?
  7. Objektive Moral oder Ethik gibt es nicht. Moralvorstellungen sind relativ und beliebig und sie entwickeln sich. Letztlich stammen sie von nichtmoralischen Sachverhalten her und sind darauf zurückführbar.
    Dass die jüdisch-christliche Religion (und darum geht es W.) über eine oder gar die objektive Moral oder Ethik verfügt ist immer nur behauptet. Schon wie die biblische Moral in die Welt gekommen ist unterscheidet sich nicht wirklich von vielen anderen Religionen mit ihren Religionsstiftern. Zudem ist die Morallehre in der Bibel keines Falls widerspruchsfrei. Viele Regeln werden dort im Rahmen des neuen Testaments anders interpretiert als noch im AT oder gar komplett ignoriert. Aber eine objektive absolute Moral kann nicht mal so und mal so lauten oder interpretiert werden. Entweder sie ist richtig und das für alle Zeit, oder nicht, sonst ist sie ja auch nur beliebig. Übrigens gemäß dieser Moral müssen z.B. Ehebrecher nach wie vor gesteinigt werden (diese Vorgabe wird auch nicht durch Geschichte in Johannes 8,1-11 obsolet).
    Dass Moralvorstellungen beliebig sind wenn nicht christlich-religiös fundiert, ist auch eine immer wieder gemachte aber falsche Behauptung. Man kann z.B. das Wohl des einzelnen Menschen sowie Menschheit als Ganzes als Basis nehmen. Daraus ergibt sich u.a. auch so etwas wie die goldene Regel, die ja schon einmal ein guter Anfang für Vorgaben zu moralischen Verhalten ist. Daran ist gar nichts beliebig.
  8. Es gibt keinen Gott, keine objektive Gerechtigkeit, keinen Sinn. Mit dem körperlichen Tod hören alle Menschen endgültig auf zu existieren. Sie müssen keine Verantwortung für ihr Leben übernehmen.
    Hier muss man einfach mal zurückfragen: Gibt es wenn man sich das Gottesbild in der Bibel ansieht dort eine objektive Gerechtigkeit? Liest man die Geschichten aus dem AT, z.B. die Sintflut in der reihenweise Unschuldige (Kinder, Säuglinge, Tiere) auf grausame Weise umkamen, dann würde zumindest ich nach Maßstäben des menschlichen Gerechtigkeitsgefühls die Frage nicht so ohne weiteres mit ja beantworten. Ebenso bei der berühmten Sinnfrage, die sich übrigens der Naturalismus tatsächlich so gar nicht stellt, wie lautet denn hier die Antwort der Theologie oder Metaphysik? Was ist der Sinn des Lebens? Was ist tatsächlich der Zweck meines, Widenmeyers, unseres Daseins? Na, wer meldet sich und erklärt es mir? Mir konnte bisher hierzu noch keiner eine befriedigende Antwort liefern.
    Zum Thema „Verantwortung übernehmen“ noch dies. Wir sollten immer versuchen die Menschen hier auf dieser Welt und schon zu Lebzeiten für ihre Taten zur Verantwortung zu ziehen und uns nicht darauf verlassen dass das vielleicht irgendwie „danach“ passiert. Solch ein Hoffen führt im schlimmsten Fall zur Lethargie und stumpfem Erdulden von Unrecht. Davon aber wird diese Welt nicht besser.

Im Laufe des Buches positioniert W. immer wieder seine Metaphysik und nicht-naturalistische Konzepte an die Stellen an der er behauptet die Naturwissenschaften und Naturalismus können hier keine Aussagen treffen, bleibt dann aber eigentlich immer schuldig, wie deren Antwort zu den von ihm formulierten Problemen aussehen. Bezeichnend auch was er im Kapitel 7 schreibt: „Konzepte wie der Okkasionalismus erscheint heute vielen intuitiv nicht sehr plausibel. Sie wurden aber lange Zeit von etlichen Philosophen vertreten. Jedenfalls wären sie, anders als die naturalistischen Theorien, logisch und sachlich möglich“. Das ist schon großartig dass man sich logisch konsistente Dinge und Szenarien in der Philosophie ausdenken kann, aber wo ist hierbei der Erkenntnisgewinn über das wahre Wesen unserer Welt? Wenn alles Erdenkliche in der Metaphysik möglich und logisch ist, wo und wie wird dann entschieden was TATSÄCHLICH ist. Auf Basis eines allmächtigen und allwissenden Gottes kann man sich zudem alles Mögliche und vor allem Unmögliche überlegen, da es in diesem Fall eigentlich keine logischen Beschränkungen gibt. Damit wird dann praktisch alles „sachlich möglich und logisch“. Das funktioniert beim Okkasionalismus, der Omphalos-Hypothese wie auch bei dessen Überspitzungen dem „Last Thursdayism“ oder Bertand Russels „vor fünf Minuten“ Hypothese. Im Zusammenhang mit dem Okkasionalismus somit naturalistische Theorien als nicht logisch und nicht sachlich zu bezeichnen ist geradezu ein Witz.

Ein anderes Beispiel wo man den Eindruck hat W. argumentiert eigentlich ins Leere ist, wenn er sich aus mir nicht ersichtlichen Gründen an dem Begriff Materie abarbeitet, den er meint quasi für die Metaphysik okkupieren zu müssen (S109-110, S136). Dabei ist seine Argumentation hier nur reines Semantikgerede, das darin gipfelt dass er sagt die Naturwissenschaft könne prinzipiell keine Aussagen zum „inneren Wesen“ der Materie machen, gleichzeitig aber einräumt dass die Antwort auf diese Frage (die die Metaphysik erst aufwirft und die Naturwissenschaft gar nicht stellt) der Metaphysik genauso unzugänglich ist, also das durch die Metaphysik erst unterstellte „innere Wesen“ dort genauso wenig fassbar ist. Hier bleibt vollkommen offen was W. damit bezogen auf die Idee des Buches, also der Widerlegung des Naturalismus, sagen will.

Die Sache mit der Materie ist auch in anderer Hinsicht exemplarisch für seine Argumentationsstrategie die sich durch das ganze Buch zieht. Erst werden Begriffe, Dinge und Sachverhalte mit metaphysischen Brimborium wie Seins-, Wessen-, Sinn- und Zweckfragen aufgeladen und damit dann die Naturwissenschaft konfrontiert, die dazu natürlich keine Antworten hat weil es sie gar nicht betrifft. Über diesen Weg meint er dann die Unzulänglichkeiten und Beschränktheit des Naturalismus demonstriert zu haben. Dass solche Fragen tatsächlich aber durch nichts und niemand falsifizierbar beantwortet werden können lässt er dabei dezent unter dem Tisch fallen. En passant macht er damit die zentrale Qualität der Naturwissenschaft, dass Aussagen dort nämlich auch falsifizierbar und belegbar sein müssen, was damit aber auch eine bewusste Einschränkung der Inhalte bedeutet, quasi zu deren Makel.

Der Erfolg des Naturalismus insbesondere bei den Naturwissenschaften liegt doch nicht daran dass er gerade hip ist und dass es jetzt überall Atheisten gibt die das Ausklammern von übernatürlichen Ursachen toll finden. Es ist noch gar nicht so lange her, da war das Übernatürliche sogar fester Bestandteil in jeglicher wissenschaftlicher Betrachtung, selbst Newton war überzeugter Alchemist. Der Knackpunkt ist, dass naturwissenschaftliche Entdeckungen und Erkenntnisse immer dann zustande kamen wenn genau übernatürliche Faktoren ausgeschlossen wurden und bei den Beobachtungen auf natürlich bedingte Ursachen und Wirkungen geschlossen wurde. Das in vielen Fällen die Motivation womöglich war so etwas wie Gottes Regeln in dieser Welt zu finden mag schon alles sein, aber erst das Loslassen von der Vorstellung des aktiven Eingreifen von Übernatürlichem und damit das Erkennen von Gesetzmäßigkeiten schuf naturwissenschaftliche Einsicht und Wissen, insbesondere der letzten 200 bis 300 Jahre. Ich kann glauben dass etwas Magisches verantwortlich ist dass der Apfel Richtung Erde fällt, oder ich sehe mich nach einer natürlichen Ursache um. Newton Vermächtnis an die Menschheit als Naturwissenschaftler sind seine naturalistischen Entdeckungen und nicht seine alchemistischen Experimente.

Widenmeyer hält dennoch lieber weiter an der Alchemie fest, wo er mittels seiner Metaphysik die physische und geistige Welt zu erklären versucht.

Das Schlusswort von R. Nolte lautet: „Auf dieser Basis kann der Leser schließlich weiterdenken bzw. sich selber entscheiden, welcher Weltsicht er sich anschließen möchte.“ Weiterdenken und sich selber entscheiden dem stimme ich voll zu, aber glücklicherweise gibt es ja nicht nur die beiden durch Naturalismus und Widenmeyer vertretenen Weltsichten. Auch wenn man kein Freund einer rein naturalistischen Weltanschauung ist, heißt das ja nicht unbedingt dass man sich damit gleich auf den Erkenntnisstand des Mittelalters zurücksehnt.

Eine weitere ausführliche Rezension findet man auf der Webseite der AG-Evolutionsbiologie